Lesung mit Kathrin Schrocke: Weiße Tränen

„Mein Ziel ist es, dass ihr nach meiner Lesung wisst, was ‚Weiße Tränen‘ sind!“
Im Rahmen der Forchheimer Literaturtage „Blätterwald“ war die Autorin Kathrin Schrocke am 11.11.2025 am Herder-Gymnasium, um aus ihrem Jugendbuch „Weiße Tränen“ zu lesen.
Begrüßt wurde sie im Namen der Schule von zwei Schülerinnen, die auf die Tatsache verwiesen, dass Rassismus oft unbemerkt im Alltag anfängt, ausufert und zu großen Konflikten führen kann. Schrocke, die Germanistik und Psychologie in Bamberg studiert und längere Zeit dort gelebt hat, griff diesen Gedanken in ihrer Vorstellung auf, indem sie betonte, jeder solle zur Lösung beitragen und nicht fragen, ob er Schuld ist. „Keiner ist nämlich allein Schuld und wenn jeder ein Teil der Lösung ist, wird es eine Gesellschaft geben, die achtsamer mit allen Menschen umgeht.“
Ihrem Roman hat sie einen Titel gegeben, der ein psychologisches Phänomen beschreibt, das sehr viele Menschen betrifft. „Ich möchte, dass ihr nach der Lesung anderen erklären könnt, was der Ausdruck ‚Weiße Tränen‘ bedeutet“, stellt sie klar.
Die Hauptrolle in ihrer Geschichte spielt der 16jährige Lenni, mit dem es das Schicksal gut gemeint hat: „Er hat eine liebevolle Familie, lebt in einer schönen Wohnung und ist weiß.“ Das erste Mal zucken einige Schüler zusammen, andere beginnen verhalten zu lachen. Schrocke ist auf diese Reaktion vorbereitet. Glück zu empfinden, weil man die „richtige“ Hautfarbe habe, sei ein ungewohnter Gedanke, der aber immer wieder bestätigt würde. In „Weiße Tränen“ durch Lennis Freund Serkan, in Deutschland geboren und aufgewachsen und eben nicht weiß, denn seine türkischen Wurzeln sieht man ihm deutlich an. Als der dunkelhäutige Benjamin in die Klasse der beiden kommt, ändert sich viel. Ganz im Gegensatz zu Serkan, der Alltagsrassismus still erduldet, nimmt Benjamin kein Blatt vor den Mund. Das Schild an seiner neuen „Schule ohne Rassismus, Schule mit Zivilcourage“ zum Beispiel ruft bei ihm nur ein spöttisches Kopfschütteln hervor. Spätestens an dieser Stelle von Schrockes Zusammenfassung horchen alle Schüler auf, denn auch das HGF trägt diese Plakette. Was gibt es denn da den Kopf zu schütteln?
Schrocke liest nun zwei Stellen aus ihrem Buch vor, die ihr Publikum mit dem konfrontieren, was versteckten Rassismus ausmacht. Lennis Lieblingslehrer fragt Benjamin an seinem ersten Schultag, wo er denn herkommt. „Aus Leipzig!“, antwortet der. „Nein, also woher in echt. Vielleicht aus dem Sudan? Oder Gabun?“, mutmaßt der Pädagoge. Schrocke hält inne, um die Schüler zu fragen, ob diese Fragen nicht einfach aus freundlichem Interesse gestellt werden. Allerdings haben die Jugendlichen es durchschaut – während die erste Frage tatsächlich wohlwollend gemeint sein kann, negiert die Nachfrage den Wahrheitsgehalt: Ein Schwarzer kann nicht aus Deutschland kommen, der Gefragte hat ja wohl gelogen!
Ein weiteres psychologisches Phänomen, das Gaslighting, begegnet dem Leser, als er Zeuge wird, wie Benjamin den Lehrer mit der Tatsache konfrontiert, dass es rassistisch sei, dem einzigen Nicht-Weißen die Rolle des Affen in einem Theaterstück zu geben. „Ach komm, so schlimm ist das nicht. Die Besetzungen wechseln jedes Jahr, nächstes Mal bekommt Serkan sicher eine Sprechrolle“, versuchen die Mitschüler seinen Vorwurf zu entkräften. Sie relativieren also seine Entrüstung und stellen seine Gefühle als übertrieben, ja falsch dar. Wer nicht ernst genommen wird in seinen Empfindungen, fühlt sich unverstanden und zieht sich zurück, wie Serkan es im Roman tut. Doch Benjamin macht weiter: „Ihr seid ja alle Nazis hier!“, wirft er in die Runde, die genauso erstarrt wie das Publikum am Herder. Da ist sie, die Keule, der unverschämte Vorwurf: Nazis an einer Schule ohne Rassismus! Tatsächlich löst dieser unwillkürliche Eindruck des Publikums Stück für Stück das Rätsel um den Ausdruck „Weiße Tränen“: Auf Nachfrage der Autorin rechtfertigt sich das Publikum: „Da ist ja wohl noch ein Unterschied zwischen Nazi und Rassismus!“, meint eine Schülerin. Schrocke nickt, ergänzt aber, dass das eigentliche Problem, das Gefühl der dunkelhäutigen Romanfigur, rassistisch behandelt worden zu sein, sich nun verlagert hat und der „Weiße“ sich als Opfer empfindet, eine Entschuldigung verlangt und eben metaphorisch „Weiße Tränen“ weint.
Aber wie kommt man nun aus dieser Spirale von Vorwürfen und Gegenangriffen heraus? Schrocke regt an: „Warum kann man nicht einfach nachfragen, was als verletzend empfunden wurde? Wie sich das anfühlt? Welche Fakten im konkreten Fall den Ausschlag gegeben haben?“ Gerade vom Alltagsrassismus Betroffene könnten dies oftmals sehr genau erklären, verstummten aber aufgrund der „Weißen Tränen“ oftmals. Die meisten Zehntklässler nicken zustimmend. Sie haben begriffen, dass das Wissen um bestimmte psychologische Zusammenhänge, Erkenntnisse aus der Rassismusforschung, ein empathischer Umgang mit allen Menschen und vor allem eine ehrliche Kommunikation viele Probleme lösen würden. So muss es hoffentlich irgendwann wirklich kein Glück mehr sein, weiß geboren zu sein.
Obwohl Kathrin Schrocke nur kurze Stellen gelesen hat, erreichte sie die Jugendlichen. Sie gab ihnen in dieser Veranstaltung wichtige Denkanstöße, aber eben ohne erhobenen Zeigefinger, wie sie gerade junge Menschen noch viel häufiger verdient hätten.